Über den Wahrheitsgehalt von Aussagen

Fangen wir am besten gleich mit einem Beispiel an: Man kann nicht sagen, dass ich vor Beginn meines Studiums gänzlich ahnungslos gewesen wäre; ich hatte gewisse Vorstellungen davon, was mich erwarten würde. Ich war der Meinung, dass es im Medizinstudium nur ums Auswendiglernen ginge. Es stellte sich aber heraus, dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach: Es gab auch einige Fächer, wo das Verständnis wichtiger als das Merken von Fakten war. Aber der meiste Stoff musste tatsächlich auswendig gelernt werden.

Nun habe ich geschrieben: "... dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach." Ich hätte auch schreiben können: "... dass dies nicht ganz wahr war." Wie kann eine Aussage "nicht ganz wahr" sein? Nach der klassischen Aussagenlogik kann sie nur entweder wahr oder falsch sein. Dazwischen gibt es nichts. An diesem Beispiel erkennt man, dass der Wahrheitsbegriff der klassischen Logik mit dem Wahrheitsbegriff, wie er in der Umgangssprache verwendet wird, nicht übereinstimmt.

Gegeben ist also die Aussage: "Alle Fächer im Medizinstudium erfordern nur Auswendiglernen." Das ist eine Allquantorenaussage. Sie widerspricht der Existenzquantorenausage: "Es gibt ein Fach im Medizinstudium, das nicht nur Auswendiglernen erfordert." Wenn man die Aussage "Alle Fächer im Medizinstudium erfordern nur Auswendiglernen" als eine Hypothese auffasst, also als eine Vermutung, die solange gilt, bis sie widerlegt worden ist, dann würde der Beweis der Existenzquantorenaussage "Es gibt ein Fach im Medizinstudium, das nicht nur Auswendiglernen erfordert" diese Allquantorenaussage widerlegen.

Für manche Philosophen gelten nur Allquantorenaussagen als wissenschaftliche Hypothesen. Da solche Aussagen niemals endgültig bewiesen werden können, sehr wohl aber durch ein Gegenbeispiel widerlegt werden können, sagen diese Philosophen deshalb, die wissenschaftliche Methode sei die Falsifikation (Widerlegung). Die Aussagenlogik kennt aber auch Existenzquantorenaussagen wie das genannte Beispiel, und mir ist schleierhaft, warum man nicht auch solche Aussagen als wissenschaftliche Hypothesen zulassen sollte. Das Interessante ist, dass es sich bei Existenzquantorenaussagen genau umgekehrt verhält: Sie können niemals endgültig widerlegt werden, jedoch können sie durch das Auffinden eines Beispiels, das die Aussage bestätigt, bewiesen werden.

Wenn die Hypothese "Alle Fächer im Medizinstudium erforden nur Auswendiglernen" durch das Auffinden eines Faches widerlegt wurde, in dem es nicht nur ums Auswendiglernen geht, muss diese Hypothese, streng logisch betrachtet, verworfen werden. Sie muss durch eine neue Hypothese ersetzt werden, die eine Modifikation darstellen kann, wie etwa: "Fast alle Fächer im Medizinstudium erfordern nur Auswendiglernen." Die Hypothese "Alle Fächer im Medizinstudium erforden nur Auswendiglernen" ist widerlegt worden; es ist gezeigt worden, dass sie falsch ist. Somit ist meines Erachtens der Wahrheitsgehalt der umgangssprachlichen Formulierung "nicht ganz wahr" gleichbedeutend mit dem Wahrheitsgehalt "falsch". Die Formulierung "nicht ganz wahr" bedeutet jedoch darauf hin, dass eine geringfügige Modifikation der Hypothese möglicherweise richtig sein könnte.

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