Die Essenz der Medizin

Es gibt in der Medizin einen Sachverhalt, dessen Kenntnis ich für sehr wichtig erachte, der aber mir selbst nie im Studium untergekommen ist. Weder in einer Vorlesung an unserer Universität noch in einem medizinischen Lehrbuch erfuhr ich davon; ich leitete ihn mir vielmehr selbst her. Daher frage ich mich, ob andere Mediziner darüber Bescheid wissen. Als Optimist, der an das Gute im Menschen glaubt, hoffe ich jedenfalls, dass viele Ärzte zu derselben Erkenntnis gelangt sind, aber es wird wahrscheinlich auch solche geben, die es nicht wissen.

Medizin beschäftigt sich mit der Behandlung von Krankheiten. Krankheiten sind abnorme Gesundheitszustände, die mit verschiedenen Symptomen einhergehen. Es sind diese Symptome, die den Patienten Sorgen machen und deretwegen sie einen Arzt aufsuchen. Nehmen wir zum Beispiel einen Patienten, der über Bauchschmerzen, Fieber und Durchfall klagt. Das sind Symptome verschiedener Infektionskrankheiten, darunter eine sehr schwere, die Cholera. Der Arzt wird daher prüfen, ob der Patient an Cholera leidet, und falls ja, wird er ihn mit Antibiotika behandeln, denn Cholera wird von Vibrio cholerae verursacht, einem Bakterium. So gehen jedenfalls die Ärzte in der Medizin gewöhnlich vor. Was ist daran aber falsch?

Nichts am Handeln des Arztes ist falsch, aber der Gedankengang ist nicht ganz korrekt. Der Denkfehler besteht in der Aussage "Cholera wird von Vibrio cholerae verursacht". In Wirklichkeit sind die Symptome nicht das Werk des Bakteriums, sondern des infizierten Körpers, der auf diese Infektion reagiert. Cholera ist eine Infektionskrankheit, und ein naiver Medizinstudent könnte glauben, an einer Infektionskrankheit zu leiden hieße, dass ein infektiöses Agens (in diesem Fall ein Bakterium) auf magische Weise den Körper des Patienten verändert. In Wahrheit tut das infektiöse Agens wenig. Ein Bakterium mag vielleicht toxische Peptide ausschütten, die für einen Teil der Symptome verantwortlich sind. Aber die meisten Symptome werden durch die Reaktion des Immunsystems auf die Infektion verursacht. Eine typische Reaktion des Immunsystems ist die Entzündung, und eine Menge Krankheiten sind Entzündungskrankheiten - wie etwa Gastroenteritis (Entzündung des Magens und von Teilen des Darms) oder Pharyngitis (Entzündung des Rachens). Wenngleich wir geneigt sind zu sagen, dass zum Beispiel Gastroenteritis vom Bakterium Helicobacter pylori verursacht werde, ist es in Wirklichkeit eine Reaktion des Immunsystems. "Rubor, Tumor, Calor, Dolor, Functio laesa" - das sind die Symptome einer Entzündung, von denen wir im Medizinstudium lernen. All diese Symptome werden vom Immunsystem verursacht.

Die Essenz besteht also darin: Während es die Symptome sind, die den Patienten stören und ihn dazu bringen, den Arzt aufzusuchen, sind sie nicht die eigentliche Gefahr, welche von der Infektion ausgeht. Nicht Fieber oder Schmerzen sind das Bedrohliche, sondern die von den infektiösen Agentien verursachten Genom-Veränderungen verschiedener Gewebezellen. Diese können unter anderem Krebs verursachen. Das ist die Gefahr, die das Immunsystem veranlasst, die Infektion heftig zu bekämpfen und keine Mühe zu scheuen, um die Eindringlinge zu vertreiben. Krebs ist eine Erkrankung, die durch Veränderungen des Genoms verursacht wird, und abgesehen von gelegentlich auftretenden Spontanmutationen sind es vor allem Viren, die sich in das Genom einer Zelle einnbauen können, auf diese Weise wichtige Genabschnitte überschreiben, die zum Schutz vor Krebs benötigt werden, und effektiv die fatale Krankheit Krebs verursachen. Außerdem können Viren auf diese Weise das Verhalten des Gewebes auch in anderer Hinsicht verändern - wie genau, kann man gar nicht vorhersagen. Dies ist die echte Bedrohung und der Grund, warum das Immunsystem so heftig reagiert und das verursacht, was wir als Krankheitssymptome wahrnehmen.

Bakterien verändern für gewöhnlich nicht das Genom menschlicher Zellen, aber sie sind selbst Zellen. Manche Bakterien werden geduldet, weil sie nützlich sind, aber andere gelten als unerwünschte Eindringlinge, eben weil sie sich genetisch von den menschlichen Körperzellen unterscheiden. Das ist der Grund, warum das Immunsystem sie bekämpft. Dieses Prinzip der Eliminierung von Zellen mit fremdem Genom kann auch bei Organtransplantationen beobachtet werden, wo es häufig zu Abstoßungsreaktionen kommt. Dagegen werden immunsupprimierende Medikamente wie Cortison verabreicht. Cortison wird auch zur Linderung der Entzündungssymptome verschrieben. In vielen Fällen ist es diskussionswürdig, ob das so gut für den Patienten ist. Aber diese Praxis zeigt deutlich, dass es eben das Immunsystem ist, welches die Symptome verursacht. Das ist etwas, das gute Ärzte wissen sollten.

Die bedauernswerte Tatsache, dass es leider nicht alle Ärzte wissen, kann man unter anderem an der Debatte in den späten 70er Jahren erkennen, als Robert Gallo erstmals postulierte, dass Viren Krebs verursachen können. Viele medizinische Wissenschaftler lehnten dieses Postulat ab, dabei ist es eine logische Konsequenz dessen, dass Viren das Genom verändern und Krebs durch genetische Veränderungen verursacht wird.

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