Was mir zu denken gab

Kurz nach meiner Matura meinte ein deutlich älterer Brieffreund (dem ich persönlich nie begegnet bin, zumindest nicht wissentlich) zu mir, er fände es gut, dass ich nun doch Medizin studieren wolle; er habe nicht verstehen können, dass sich jemand mit meiner Begabung für Informatik interessieren kann. Dass ich nicht Medizin studieren wollte und letzten Endes auch kein besonders guter, sondern (den Noten nach) ein eher durchschnittlicher Medizinstudent wurde, kann ich aber ganz einfach begründen: Ich bin von meiner Persönlichkeit her ein Denker. Deswegen bin ich auch gar nicht glücklich, wenn ich viel lernen muss; denn beim Lernen muss ich mich auf den Stoff konzentrieren und kann nicht über jene Dinge nachdenken, die mich wirklich interessieren.

Als einem, der gerne denkt, haben mir aber auf Anhieb die Internet-Foren zugesagt, die in den ersten Jahren nach Beginn meines Studiums in Mode kamen. In diesen Foren habe ich dann auch recht viel Zeit verbracht - soweit ich eben während des Studiums noch für andere Dinge Zeit hatte.

In den Diskussionen in den Foren gab es immer wieder Aussagen, über die ich länger nachdenken musste. Manchmal reagierte ich nicht oder nur oberflächlich und kam erst Jahre später zu einer befriedigenden Konklusion. (Selbstverständlich dachte ich nicht die ganzen Jahre lang nur über die eine Sache nach.) Ein Satz, auf den ich damals keine Antwort wusste, war eine vorwurfsvolle Aufforderung an mich:

"Und jetzt schau', dass du etwas aus deiner Begabung machst, denn bisher hast du wenig gemacht."

Erst jetzt, vor zwei Tagen, bin ich darauf gekommen, wie ich auf diese Bemerkung eigentlich hätte reagieren müssen.

Die Bemerkung muss unter drei Gesichtspunkten analysiert werden:

1. War der Vorwurf, bisher wenig gemacht zu haben, gerechtfertigt? Das kann man schwer mit einem eindeutigen Ja oder Nein beantworten; aber: Hat derjenige, von dem diese Aussage stammt, überhaupt über genügend Hintergrundwissen verfügt, um eine solche Aussage tätigen zu können? Diese Frage kann man eindeutig verneinen. Er wusste garantiert zu wenig über mich und mein bisheriges Leben, um zu einem solchen Urteil kommen zu können. Dass ich bisher wenig gemacht habe, war keine Tatsache, sondern eine Mutmaßung.

2. Die Begründung passt nicht zur Aufforderung. Es ist nicht logisch, jemanden aufzufordern, etwas zu tun, weil er bisher wenig in seinem Leben gemacht hat. Logisch wäre es, von jemandem Aktivität einzufordern, weil er im Moment nichts tut. Im konkreten Fall traf das aber nicht zu: Ich war mit meinem Studium schwer beschäftigt und hatte ständig Lernstoff zu memorieren.

3. Der letzte Gesichtspunkt ist, ob die Aufforderung rechtens ist. Juristisch gesehen, kann man sie als eine Meinungsäußerung betrachten; seine Meinung zu äußern, ist schon okay. Wertete man die Aufforderung aber nicht (nur) als eine Meinungsäußerung, sondern (auch) als einen Befehl, wäre das schon nicht mehr in Ordnung. Wie sieht es moralisch aus? Moralisch ist es schon in Ordnung, jemanden aufzufordern, aktiv zu werden. Da aber ohnehin eine Aktivität gegeben war, war die Bemerkung, so gesehen, sinnlos. Anders zu werten wäre es, falls derjenige, von dem diese Aufforderung stammt, damit gemeint hätte, ich sollte mein Studium aufgeben und statt dessen gleich arbeiten gehen. Das wäre moralisch gesehen mit Sicherheit verwerflich! Ob es so gemeint war, ist mir nicht bekannt, und da mittlerweile schon einige Jahre vergangen sind, wird es wahrscheinlich auch nicht mehr möglich sein, es in Erfahrung zu bringen.

Die richtige Reaktion wäre gewesen, diese Analyse niederzuschreiben und sie dem Urheber der Aussage zu übermitteln. Die Gelegenheit dazu habe ich verpasst. Vielleicht werde ich aber nun, da ich erkannt habe, wie man solche Äußerungen analysieren muss, in Zukunft besser darauf reagieren.

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