Autismus

Im Mai dieses Jahres wurde die fünfte Auflage des "Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders" der American Psychiatric Association (DSM-5) veröffentlicht. Darin findet sich die Diagnose "Asperger-Syndrom" nicht mehr. Statt dessen gibt es nun für alle Formen von Autismus die einheitliche Diagnose "autism spectrum disorder" [1]. Ich sehe das mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

Einerseits fand ich den Trend bedenklich, dass Medienberichten zufolge in den letzten zehn bis zwanzig Jahren in der westlichen Welt bei Kindern und Jugendlichen immer häufiger durch Ärzte und offenbar auch durch Psychologen die Diagnose "Asperger-Syndrom" gestellt wurde. In den Ohren eines Laien klingt "Asperger-Syndrom" nach einer besonders schweren Erkrankung. Auch wenn der Begriff "Syndrom" eigentlich nur das gleichzeitige Zusammentreffen mehrerer Auffälligkeiten bezeichnet und das Vorliegen eines Syndroms allein noch keinen Krankheitswert haben muss, erweckt die Bezeichnung "Asperger-Syndrom" Assoziationen mit in der Tat recht schwerwiegenden Zuständen wie "Down-Syndrom", "Tourette-Syndrom" oder "Borderline-Syndrom". Kinder und Jugendliche, bei denen das "Asperger-Syndrom" diagnostiziert worden ist, sind daher gesellschaftlich stigmatisiert. Das ist besonders deswegen problematisch, weil diese Kinder und Jugendliche in vielen Fällen überdurchschnittlich intelligent sind und viel Potenzial hätten, es zu etwas zu bringen - Potenzial, das aufgrund einer solchen Diagnose möglicherweise ungenutzt bleiben könnte. Deswegen sehe ich es mit einem lachenden Auge, dass das DSM-5 das "Asperger-Syndrom" nicht mehr kennt.

Andererseits besteht die Gefahr, dass Kinder und Jugendliche, bei denen früher das "Asperger-Syndrom" diagnostiziert worden wäre, nun die Diagnose "autism spectrum disorder" erhalten könnten. Vom Regen in die Traufe! Aus diesem Grund das weinende Auge.

Nun betrifft aber das DSM-5 in erster Linie den amerikanischen Raum, während in Europa neurologische und psychiatrische Diagnosen häufiger nach der "International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems" (ICD) gestellt werden. Die aktuelle Fassung ist ICD-10, Version 2013. Und diese kennt nach wie vor ein "Asperger-Syndrom". Die Diagnose kann hierzulande also auch weiterhin gestellt werden.

Laut [2] wird das "Asperger-Syndrom" in ICD-10, Version 2013, wie folgt definiert:

"Diese Störung von unsicherer nosologischer Validität ist durch dieselbe Form qualitativer Abweichungen der wechselseitigen sozialen Interaktionen, wie für den Autismus typisch, charakterisiert, zusammen mit einem eingeschränkten, stereotypen, sich wiederholenden Repertoire von Interessen und Aktivitäten. Die Störung unterscheidet sich vom Autismus in erster Linie durch fehlende allgemeine Entwicklungsverzögerung bzw. den fehlenden Entwicklungsrückstand der Sprache und der kognitiven Entwicklung. Die Störung geht häufig mit einer auffallenden Ungeschicklichkeit einher. Die Abweichungen tendieren stark dazu, bis in die Adoleszenz und das Erwachsenenalter zu persistieren. Gelegentlich treten psychotische Episoden im frühen Erwachsenenleben auf."

Wenigstens wird in dieser Definition offen "von unsicherer nosologischer Validität" gesprochen. Diese Formulierung wurde wohl absichtlich gewählt, weil sie schwer verständlich ist. Selbst mir ist nicht ganz klar, ob "unsichere nosologische Validität" nur bedeutet, dass nicht klar ist, ob das "Asperger-Syndrom" ein eigenständiges Krankheitsbild ist (und nicht einfach eine spezielle Ausprägungsform einer anderen Krankheit), oder ob man diese Formulierung nicht auch so interpretieren könnte, dass gar nicht klar ist, ob es dieses Krankheitsbild überhaupt gibt (bzw. ob es Krankheitswert hat, wenn eine Person der Beschreibung entsprechende Auffälligkeiten aufweist). Jedenfalls ist ganz klar: Ein Arzt oder Psychologe, der die Diagnose "Asperger-Syndrom" stellt, stellt eine Diagnose "von unsicherer nosologischer Validität". Ich persönlich würde aus diesem Grund, wenn ich auf der Neurologie oder auf der Psychiatrie als Arzt arbeiten sollte, diese Diagnose gar nicht stellen (sofern ich die Wahl hätte und mein übergeordneter Oberarzt oder Primar nicht anderer Meinung wäre).

Mir scheinen Personen, bei denen manche die Diagnose "Asperger-Syndrom" stellen würden, einfach ungewöhnliche Persönlichkeitstypen zu sein - Menschen, die sich mit bestimmten Themen intensiver als andere beschäftigen, wohl aufgrund dieser Bevorzugung intensiver solitärer Beschäftigung mit Sachthemen seltener in Situationen geraten, in denen sie mit anderen Menschen interagieren müssen, und deswegen eventuell weniger Erfahrung im Umgang mit Menschen haben als die meisten Gleichaltrigen. Muss das etwas Schlechtes sein? Man bedenke: Nicht zuletzt wird auch berühmten Wissenschaftlern wie Albert Einstein nachgesagt, "Asperger-Autist" gewesen zu sein. Wenn Einstein sich nicht intensiv im stillen Kämmerlein mit anspruchsvollen Fragestellungen der Physik beschäftigt hätte, hätte er wohl nie die Allgemeine Relativitätstheorie entwickelt und auch keine seiner übrigen Spitzenleistungen erbracht. Angesichts dessen ist es sehr bedenklich, wenn bei einem Kind eine Diagnose wie "Asperger-Syndrom" gestellt wird und dem Kind dadurch womöglich, weil es von diesem Zeitpunkt an offiziell als "behindert" gilt, die Möglichkeit genommen wird, wie Einstein Physik (oder eine andere wissenschaftliche Disziplin) zu studieren - vielleicht hätte es eine bahnbrechende Entdeckung gemacht, die der ganzen Menschheit zu Gute gekommen wäre.

[1] http://www.dsm5.org/Documents/Autism%20Spectrum%20Disorder%20Fact%20Sheet.pdf

[2] http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2014/block-f80-f89.htm#F84.5

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