Menschlich-soziale Reife

Eine Diskussion auf Facebook hat wieder einmal ein Vorurteil bestätigt, das viele Menschen Hochbegabten gegenüber haben: nämlich dass die Hochbegabten in ihrer menschlich-sozialen Reife gleichaltrigen Normalbegabten meist hinterher hinken. Ob das wirklich auf alle Hochbegabten zutrifft, ist zwar zu bezweifeln, aber zumindest gibt es einige Hochbegabte, für die dieses Vorurteil tatsächlich gilt. Sie glauben, die Weisheit mit dem Löffel gefressen zu haben, und erheben den Anspruch, sogar deutlich ältere, zum Teil aber ebenfalls hochintelligente Personen belehren zu dürfen.

Meiner Meinung nach gäbe es eine Lösung, wie man erwirken könnte, dass auch Hochbegabte im Alter von 18 Jahren den altersüblichen Reifegrad erreichten, nämlich eigene Schulen speziell für Hoch- bzw. Höchstbegabte. Diese Schulen müssten vor allem zwei Anforderungen erfüllen:

1. Die Schüler müssten als das wahrgenommen werden, was sie sind, nämlich als besonders begabt.

2. Die Schüler müssten ihrer Begabung entsprechend herausfordernde Aufgaben gestellt bekommen.

Diese Punkte bedürfen möglicherweise einer Erklärung, vor allem Punkt 1.

Ich möchte Punkt 1 mit meiner eigenen Lebensgeschichte begründen: Ich war ein guter Schüler an einem neusprachlichen Gymnasium und wurde deswegen von den meisten Lehrern als "gescheit" wahrgenommen, aber nur wenige äußerten sich in dem Sinne, dass sie mich für hoch- bzw. höchstbegabt hielten. Tatsächlich meinte zum Beispiel meine Lateinlehrerin im persönlichen Gespräch nach der Matura, dass sie mich für "nicht so gescheit" hielt, aber vermutete, dass ich "die richtige Lerntechnik" gefunden hätte. Sie glaubte also, meine schulischen Leistungen seien auf eine spezielle Methode zurückzuführen, wie ich den Lehrstoff in mein Gedächtnis einspeicherte. Wirklich erkannt haben meine Begabung wohl nur die Lehrer in den Fächern, in denen man Aufsätze schreiben musste. Für meine Schularbeiten im Fach Englisch bekam ich oft nicht nur eine 1, sondern sogar eine 1+, weil meine Aufsätze eigene Gedanken enthielten und diese auch nicht nur in der Luft hingen, sondern stets logisch begründet waren. Dass meine eigentliche Stärke nicht im Merken lag, sondern in der Fähigkeit, logische Schlüsse zu ziehen, fiel eben nur wenigen Lehrern auf. Sogar der Mathematiklehrer war überrascht, als ich an einem landesweiten Mathematik- und Denksportwettbewerb teilnahm und einen herausragenden Platz erreichte. Für ihn war durch meine Leistung in diesem Wettbewerb klar, dass ich hochbegabt war; aber allein aufgrund seines Unterrichts (und ich hatte ihn zu diesem Zeitpunkt schon fast vier Jahre lang in Mathematik und Physik gehabt) wäre er nicht auf diese Idee gekommen.

Meinen ersten Intelligenztest machte ich erst im Alter von 18 Jahren, fast ein Jahr nach der Matura. Intelligenz war also während meiner Schulzeit kein Thema. Aber in meiner Freizeit las ich immer wieder Zeitungen und Zeitschriften, und in diesen wurde damals oft über hochbegabte Kinder berichtet. Ich war von Neid erfüllt, dass ich nicht selbst als hochbegabt wahrgenommen wurde und keine Hochbegabtenförderung erhielt. Also machte ich dann, mit 18, den Intelligenztest, um zu beweisen, dass auch ich zu den Hochbegabten gehörte.

Wenn man in der Schule zwar als "gescheit", aber nicht als besonders begabt wahrgenommen wird, dann wird die Schule der Persönlichkeit des hochbegabten Schülers nicht gerecht. Der begabte Schüler wird in diesem Fall lediglich als einer von vielen wahrgenommen, der sich von der Masse nur dadurch unterscheidet, dass er besonders pflegeleicht ist, weil er stets gute Leistungen erbringt und nicht unangenehm auffällt. (Wohlgemerkt: Ich behaupte damit nicht, dass alle laut Intelligenztest Hochbegabten gute Schüler wären; ich gehe hier von einem bestimmten Persönlichkeitstyp aus.)

Wenn man einen Schüler hingegen nicht nur als pflegeleicht, sondern als begabt ansieht, dann ist klar, dass er einer ganz anderen Behandlung bedarf. Damit kommen wir zu Punkt 2. Begabte brauchen Herausforderungen. Ich habe mich während der Schulzeit immer auf das Studium an der Universität gefreut, weil ich erwartet hatte, an der Universität mit anspruchsvolleren Aufgaben (vor allem im Bereich der Mathematik) konfrontiert zu werden als in der Schule. Warum kann man hoch- und höchstbegabten Schülern nicht schon während der Schulzeit solche Aufgaben stellen? Die wenigsten wirklich Begabten würden solche besonders schwierigen Aufgaben als Belastung ansehen, die meisten würden sich darüber sogar freuen. Freilich darf sich der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben aber nicht negativ auf die Note auswirken. Wenn ein Schüler von besonders schwierigen Aufgaben nur einen bestimmten Teil (sagen wir: 80%) lösen kann, dann ist das genauso gut, wie wenn er von für ihn leichten, seiner Altersstufe entsprechenden Aufgaben 100% lösen kann. Wenn ein Schüler jedoch selbst ausgesprochen schwierige Aufgaben bewältigt, dann muss er dafür besondere Anerkennung bekommen.

Meiner Meinung nach könnte durch diese Art der Begabtenförderung eher bewirkt werden, dass der begabte Schüler am Ende, zum Zeitpunkt seiner Volljährigkeit, über den von der Gesellschaft gewünschten menschlich-sozialen Reifegrad verfügt.

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