Qualität des Denkens

Eine Bekannte von mir, eine studierte Psychologin, meinte einmal, dass sich Hochbegabte in ihrer Denkweise qualitativ nicht von Normalbegabten unterscheiden würden. Diese Bemerkung schoss mir heute durch den Kopf, als ich über etwas anderes nachdachte:

Marco Ripà stellte einmal die Vermutung an, ich würde mich nicht durch eine extrem hohe Denkgeschwindigkeit auszeichnen, sondern vor allem durch eine ungewöhnliche Tiefe des Denkens. Diese Vermutung könnte aus meiner subjektiven Sicht richtig sein. Damit möchte ich nicht behaupten, ich wäre langsam im Denken, im Gegenteil - die Geschwindigkeit meines Denkens dürfte durchaus über dem Durchschnitt liegen. Das haben auch so genannte Speed-Tests gezeigt. Bei einem Rechentest beispielsweise, bei dem es darum ging, innerhalb von zwanzig Minuten möglichst viele Rechenaufgaben zu lösen, kam ich auf fast tausend gelöste Aufgaben (von denen ich nur vier falsch hatte). Der Durchschnittsbürger schafft in dieser Zeit angeblich nur siebenhundert solcher Aufgaben; wie viele davon der Durchschnittsbürger richtig hat, weiß ich nicht.

Es scheint mir aber wahrscheinlich zu sein, dass ich insgesamt über viele Dinge länger nachdenke als die meisten anderen Menschen. Deswegen könnte ich unter Umständen in manchen Dingen langsamer wirken. Andere kommen jedoch nur deswegen schneller zu Konklusionen, weil sie die Probleme weniger gründlich analysieren und mehr an der Oberfläche kratzen.

Insofern trifft die Aussage der Psychologin auf mich sicher nicht zu. Vielleicht unterscheiden sich Hochbegabte in ihrer Gesamtheit in ihrer Denkweise qualitativ nicht von Normalbegabten. Ich unterscheide mich in dieser Beziehung meines Erachtens aber sehr wohl von Normalbegabten. Das relativiert auch die Aussagekraft von Intelligenztests. Manche dieser Tests überprüfen ja nur eingeübte beziehungsweise einübbare Fähigkeiten, wie etwa Kopfrechnen oder Auswendiglernen. Das sagt meines Erachtens wenig über die Qualität des Denkens aus. Aber was ist überhaupt die Qualität des Denkens? Hat es mit der Anzahl der Fehler (logischen Fehlschlüsse) zu tun, die man beim Denken innerhalb einer bestimmten Zeitspanne macht? Oder steht es im Zusammenhang mit der Art des Denkens, der Methode, wie man ein Problem analysiert und zu Konklusionen kommt? Semantisch gesehen, kann der Begriff der Qualität des Denkens aus meiner Sicht beides bedeuten. Nun postuliert aber beispielsweise Jung, dass es unter anderem vernunft- und gefühlsbetonte Menschen gebe sowie solche, deren Denken eher konkret fassbare Gegenstände und Fakten zu Grunde liegen und andere, die eher abstrakt, in Zusammenhängen denken. Nach Jung handelt es sich dabei um verschiedene Persönlichkeitstypen. Es mag eine Korrelation zwischen dem Persönlichkeitstyp und dem Intelligenzquotienten geben, aber grundsätzlich hält Jung die Merkmale Persönlichkeit und Intelligenz für voneinander im Großen und Ganzen unabhängig. Da stellt sich also die Frage, ob die Intelligenztests wirklich das geeignete Instrument sind, um die Qualität des Denkens eines Menschen im Sinne von "Denkstil" festzustellen.

So gesehen, könnte es tatsächlich so sein, dass sich Hochbegabte, statistisch gesehen, qualitativ nicht von Normalbegabten in ihrer Denkweise unterscheiden. Dies würde aber bedeuten, dass diese Art von Menschen, die mich besonders interessieren, weil sie vielversprechende Gesprächspartner sein könnten, vielleicht gar nicht - oder nicht ausschließlich - unter den so genannten Hochbegabten zu finden sind. Möglicherweise erklärt das zum Teil auch diverse Differenzen, die ich schon mit anderen Mensa-Mitgliedern ausgefochten habe. Bei einigen hat man ja den Eindruck, sie würden Intelligenz vor allem als Grad der Anpassung an gesellschaftliche Normen betrachten, eine Ansicht, mit der ich überhaupt nicht einverstanden bin - zu einem gewissen Grad mag Intelligenz Voraussetzung sein, um sich an gesellschaftliche Normen anzupassen, aber weder ist sie hinreichend, noch impliziert ein überdurchschnittlicher Intelligenzquotient einen stärkeren Anpassungsgrad als ein durchschnittlicher Intelligenzquotient; im Gegenteil, wer nur einen durchschnittlichen Intelligenzquotienten hat, wird wahrscheinlich von der Mehrheit der Bevölkerung als "normal" wahrgenommen werden (sofern er kein anderes Merkmal aufweist, das als abnorm betrachtet werden könnte), während überdurchschnittlich Intelligente vielerorts als "andersartig" angesehen werden. In bestimmten Kollektiven freilich ist jedoch überdurchschnittliche Intelligenz die Norm; in diesen Fällen mag die überdurchschnittliche Intelligenz Voraussetzung sein, um dort als gleichwertig akzeptiert zu werden. Ein Mechaniker aber, der stolz auf seinen hohen IQ auf Mensa-Niveau ist, weil er glaubt, dass er es diesem IQ zu verdanken hat, dass er so "gut durchs Leben kommt", mag vielleicht insofern Recht haben, als er bei durchschnittlicher Intelligenz und ansonsten gleichen Umweltfaktoren (angeblich erhielt er von seinen Eltern nur mangelhafte Förderung) vielleicht größere Probleme gehabt hätte, eine gute Ausbildung und einen guten Job zu bekommen. Allerdings braucht man wahrlich keinen hohen IQ, um Mechaniker zu werden, wenn man unter einigermaßen guten Umweltbedingungen (die in seinem Fall, zugegebenermaßen, anscheinend nicht vorlagen) aufwächst.

Der IQ ist jedenfalls nicht das allein Entscheidende, wenn es um die grundsätzliche Lebensfähigkeit geht. Wenn zudem der IQ nur ein Maß für die Lebenstüchtigkeit wäre, dann hätte ein Verein wie Mensa für mich keinen Reiz, denn zu einem solchen Verein gehe ich wegen der Aussicht auf intellektuellen Austausch und nicht für gegenseitiges Bauchpinseln und Auf-die-Schulter-Klopfen.

Vielleicht ist es aber tatsächlich so, dass es nicht unbedingt Menschen mit einem besonders hohen IQ sind, die für mich die interessantesten Gesprächspartner wären. Das kann ich leider nicht beurteilen. Es könnte jedoch auch sein, dass ein hoher IQ schon notwendig wäre, aber eben nur notwendig und nicht hinreichend. Dass ein hoher IQ ein hinreichendes Kriterium für einen interessanten Gesprächspartner wäre, kann ich aufgrund meiner Erfahrung in der Mensa, wo ich schon seit 2002 Mitglied bin, und in anderen Hochintelligentenvereinigungen ja bereits ausschließen.

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