Schockerlebnisse

Es ist immer wieder interessant, manchmal auch amüsant, zu welchen Schockerlebnissen es kommt, wenn Leute etwas ihr ganzes Leben lang für wahr gehalten haben und sich dann herausstellt, dass die vermeintliche Wahrheit eine Scheinwahrheit war.

Anstatt über andere Personen herzuziehen, gedenke ich aber, zunächst so fair zu bleiben, dass ich in erster Linie über meine eigenen Schockerlebnisse dieser Art sprechen werde. Früher dachte ich, Intelligenz hätte etwas mit Rechtschreibung zu tun. So war ich schockiert, als ich feststellte, dass es bei der Mensa Leute gibt, die ich aufgrund ihrer mangelhaften Rechtschreibkenntnisse früher niemals für intelligent gehalten hätte. Aber ich habe rasch gelernt (was manche anscheinend bis heute nicht begriffen haben), dass es unzulässig ist zu glauben, alle Menschen wären im Großen und Ganzen ähnlich sozialisiert worden. Es gibt zum Beispiel Eltern, die ihre Kinder gar keine Bücher lesen lassen und statt dessen schauen, dass die Kinder ständig mit praktisch-handwerklichen Tätigkeiten beschäftigt sind. Dann ist natürlich klar, dass sich solcherart erzogene Menschen als Erwachsene gewaltig von jenen unterscheiden, die schon von klein auf immer sehr belesen waren, selbst wenn sie alle etwa die gleiche Intelligenzhöhe haben. Aber es reicht auch, einen Mensa-Kollegen zu zitieren, um den Unterschied deutlich zu machen. Er meinte: "Ich kenne auch Akademiker, aber die sind nicht intelligent." Das Entscheidende bei dieser Aussage ist das Wort "auch" - denn ich beispielsweise kenne (im echten Leben, außerhalb der Mensa) fast nur Akademiker.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch darauf eingehen, dass manche Akademiker Mediziner nicht für intellektuell halten. Ich finde diese Verallgemeinerung unzulässig. Sicher gibt es viele Mediziner, die nur auswendig gelernt haben und so durch die Prüfungen gekommen sind, aber es gibt sehr wohl auch solche, die sich eigene Gedanken machen. Zudem sind sich Akademiker anderer Studienrichtungen oft gar nicht im klaren, wie hart das Medizinstudium tatsächlich ist - erst unlängst zeigte sich ein Gesprächspartner (viele Grüße!) darüber verwundert, als ich ihm erzählte, dass man im Medizinstudium für gewöhnlich schon durchfliegt, wenn man in der mündlichen Prüfung eine einzige Frage nicht beantworten kann.

Ich erinnere mich auch, wie eine Mensa-Kollegin, eine ältere Dame, die damals schon in Pension war, überrascht war, als ihr kolportiert wurde, jemand hätte im Diskussionsforum der Mensa "rechtes" Gedankengut vertreten - nie hätte sie gedacht, dass es auch Leute mit solchen Ansichten innerhalb der Mensa gäbe. Dabei war sie schon seit den 1960er Jahren bei Mensa Mitglied. Auch das war wohl ein Schockerlebnis. Dabei war es wohl vor allem auf ihre eigene Naivität zurückzuführen. Denn in der Vereinszeitschrift von Mensa Österreich hatten einige leitende Redakteure immer wieder Artikel gebracht, die entweder ausländerkritisch waren oder auf sonstige Weise dem gesellschaftlichen Konsens der "political correctness" widersprachen. Vermutlich verfügte die Mensa-Kollegin aber über zu wenig Bildung im Bereich politische Philosophie und wohl auch über zu wenig Interesse an der Thematik, als dass es ihr aufgefallen wäre.

In der Tat gehen viele Mensa-Mitglieder davon aus, dass alle Mensaner ihren Idealvorstellungen entsprächen, was immer das auch wäre - zum Beispiel, dass Mensaner besonders ordentlich oder anständig wären. Dadurch, dass es bei der Mensa früher nur gelegentlich Treffen gab, hat man die Ansichten der einzelnen Mitglieder nicht so gründlich kennen lernen können. So ist es eben zu verstehen, warum auch langjährige Mitglieder ihren naiven Idealvorstellungen treu blieben. Erst die Foren, die es ab dem Jahr 2004 gab, zeigten deutlicher die Unterschiede zwischen den Mitgliedern und ihren individuellen Lebenswelten.

Ich finde das durchaus reizvoll, auch wenn es immer wieder ärgerlich ist, wenn einmal irgendjemand aus irgendwelchen Gründen glaubt, seine persönlichen Ansichten wären die einzig richtigen und alle anderen müssten sie übernehmen.

In diesem Zusammenhang sei auch gesagt, dass viele, die neu zur Mensa kamen, berichteten, früher immer die Erfahrung gemacht hatten, die intelligentesten zu sein, egal in welchem Milieu sie sich bewegten, und es ein ganz neues Erlebnis für sie war, bei der Mensa nur mehr einer von vielen zu sein. Das war bei mir anders! Ich habe schon vor meinem Mensa-Beitritt sehr intelligente Leute gekannt, jedoch waren die meisten davon hochspezialisierte Computerfreaks, mit denen man sich über andere Themen schlecht unterhalten konnte. Bei Mensa fand ich dann auch reizvoll, dass man dort zu jedem Thema einen Gesprächspartner fand. Man sollte aber bedenken, dass ich der Mensa beigetreten bin, als ich 18 war. Da war ich noch recht jung. Ein anderes Mitglied mit einer ähnlichen Bildungs-Biografie wie ich trat der Mensa erst jetzt, mit 30, bei. Wie er schockiert war über die anderen Mensa-Mitglieder! Da stellte doch glatt ein Mitglied beim Vortrag über die Hominidenevolution die Frage, wie die verschiedenen Hautfarben entstanden seien - mein Kollege: "Das weiß man doch!" In der Tat, Wissen und Intelligenz sind eben zwei verschiedene Dinge. Intelligenztests messen nur die Denkfähigkeit. Sie messen nicht einmal, ob jemand davon Gebrauch macht. Man bedenke: Was ist, wenn sich jemand immer für dumm gehalten hat und auch von der Umwelt für dumm gehalten worden ist und sich deswegen nie mit geistig anspruchsvollen Dingen beschäftigt hat? Wenn so jemand dann im Alter von 50 Jahren einen Intelligenztest macht und so gut abschneidet, dass er der Mensa beitreten kann - ja, dann ist doch klar, dass so jemand selbst gegenüber Jüngeren, die sich ihrer Begabung stets bewusst waren und geistige Herausforderungen nie gescheut haben, im Hintertreffen sein wird! Dementsprechend darf man sich von Vereinen wie Mensa auch nicht zu viel erwarten; natürlich, Intelligenz alleine, die Fähigkeit, Wissen zu verarbeiten, ist noch nicht viel wert, wenn es an Wissen mangelt, das man verarbeiten kann.

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