Über Denktraditionen

Mein Artikel über den Unterschied zwischen Hochbegabung und Höchstbegabung stieß bei einigen Lesern auf Ablehnung; dazu möchte ich Folgendes sagen: Es mag schon sein, dass es im ersten Moment schrecklich klingt, wenn jemand sagt, dass nur Menschen mit einem IQ von 140 (also ca. 0,5% der Bevölkerung) wirklich intelligent seien. Sind denn nicht wesentlich mehr, im Prinzip sogar alle Menschen intelligent?

Ja, es stimmt schon, alle, oder zumindest fast alle, Menschen sind intelligent. Aber: Die wenigsten Menschen denken wirklich selbstständig. Oder wenn, dann nur von Zeit zu Zeit. Nur wenige Menschen kommen regelmäßig selbstständig zu neuen Konklusionen. Und das ist es meiner Auffassung nach, was Cooijmans unter "intelligent" versteht.

Viele Menschen wirken intelligent, sind aber keine selbstständigen Denker. Sie verfügen nur über tradiertes Wissen und tradierte Denkmuster. Denktraditionen würde ich hierbei unterteilen in Meinungstraditionen und Argumententraditionen. Einerseits werden Meinungen tradiert, andererseits auch Argumente, mit denen diese Meinungen begründet werden.

Wenn man mit anderen Menschen diskutiert, trifft man ständig solche wiederkehrenden Muster an. Manche wurden in der Familie weitergegeben, andere durch die Schule, einige durch die Kirche (bei religiösen Menschen) oder durchs Fernsehen, manche eventuell durch die Arbeit, und nur einige wenige Menschen erwerben Denkmuster durch den Konsum von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Die Menge derjenigen, die durch selbstständiges Nachdenken obendrein regelmäßig zu neuen Konklusionen kommen, dürfte verschwindend klein sein und ihre Größe möglicherweise tatsächlich nahe bei der Zahl der Menschen liegen, die einen IQ von 140 oder höher haben.

Nichts gegen Denktraditionen - aber man muss sich eben bewusst sein, dass es sich um Traditionen handelt und nicht um neuartige Erkenntnisse. Natürlich ist es auch wichtig, über tradiertes Wissen, tradierte Meinungen und tradierte Argumente zu verfügen, sonst müsste man ja ständig das Rad neu erfinden, was nicht gerade effizient ist. Aber wirklich intelligent sind nur diejenigen, die regelmäßig zu eigenen, neuen Schlussfolgerungen kommen. Wohlgemerkt: Das heißt nicht unbedingt, dass es nicht jemand anderen in der großen, weiten Welt gegeben haben dürfte, der bereits den gleichen Gedanken gehabt hat.

Menschen neigen ja auch dazu, einander in Schubladen zu kategorisieren - "Du bist ein Linker", "Du bist ein Rechter", "Du bist ein Katholik" usw. Diese Schubladen basieren in der Tat eben auf solchen Denktraditionen. Oft genügt es, wenn man irgend etwas sagt, was einer bestimmten Denktradition entspricht, und schon wird man schubladisiert. Dabei sind intelligente Menschen meistens Eklektiker, die nicht nur einer bestimmten Tradition folgen, sondern bereit sind, auch Gedankengut aus anderen Denktraditionen aufzunehmen, sofern sie ihnen in den Kram passen.

Was liberales Gedankengut betrifft, wird ja oft gesagt, dass es zumindest hier in Österreich keine liberale Denktradition gäbe. Somit müsste eigentlich jeder österreichische Liberale mehr oder weniger durch selbstständiges Denken zu seinen Ansichten gekommen sein. Insofern ist anzunehmen, dass viele Liberale einen IQ über 140 haben werden - was auch die bescheidenen Wahlerfolge liberaler Parteien erklärt (aber immerhin, 2% sind doch ein wenig mehr als 0,5%). Jedenfalls möchte ich jedem Leser raten, seine eigene Intelligenz nicht zu unterschätzen.

In diesem Zusammenhang noch eines meiner Lieblingszitate:

Anyone who in discussion relies upon authority uses not his understanding, but rather his memory.
- Leonardo da Vinci

Der Gebrauch dieses Zitats entbehrt natürlich nicht einer gewissen Selbstironie, weil man sich durch die Verwendung dieses Zitats ja auf die Autorität Leonardo da Vincis bezieht und dadurch genau das tut, was Leonardo in diesem Zitat kritisiert. :-) Aber wer nicht über sich selbst schmunzeln kann, hat ohnehin keinen rechten Sinn für Humor.

Früher war ich in einigen Diskussionsforen im Internet sehr aktiv, vor allem in internen Foren des Vereins Mensa. Oft habe ich neue Threads gestartet, in denen ich meine eigenen Ansichten zur Diskussion stellte. Nun habe ich einerseits beschlossen, mich von diesen Foren fernzuhalten, um Stress zu reduzieren (siehe den entsprechenden Blog-Artikel vor einigen Tagen), andererseits bin ich durch mein Nachdenken über Denktraditionen darauf gekommen, dass es mir in der Tat wenig nützt, im Rahmen der Mensa über meine Ansichten diskutieren zu lassen, denn:

Es hat sich über die Jahre gezeigt, dass ich relativ gut im schlussfolgernden Denken bin, besser noch als die meisten Mensa-Mitglieder. Es passiert recht selten, dass ich zu einer falschen Konklusion komme, weil ich einen Denkfehler begangen habe. Eher kann es sein, dass meine Konklusionen falsch sind, weil ihnen falsche Annahmen zugrunde liegen.

Das bedeutet aber, dass ich nicht unbedingt hochintelligente Menschen (also Menschen, die relativ gut im schlussfolgernden Denken sind) benötige, um meine Hypothesen logisch zu überprüfen. Eher brauche ich Menschen mit viel Lebenserfahrung, die eventuell aufgrund ihrer Erfahrung in der Lage sind, meine Annahmen (empirisch) zu widerlegen. Da ist möglicherweise Mensa das falsche Publikum; denn es ist nicht anzunehmen, dass sich Mensaner, was ihre Lebenserfahrung betrifft, statistisch signifikant von der Gesamtbevölkerung unterscheiden, es sei denn, es handelt sich um Erfahrungen, die speziell mit der überdurchschnittlichen Intelligenz zu tun haben. Andererseits trifft man bei Mensa aber Menschen aus allen möglichen Lebenslagen an, vom Kellner bis zum Bankdirektor; so gesehen, ist Mensa vielleicht doch nicht so schlecht.

Wie dem auch sei, ich bin der Meinung, dass es in der Tat besser sein dürfte, wenn ich meine Ansichten allenfalls hier, in meinem Blog, veröffentliche und die Foren meide, um Zeit und Energie zu sparen und negativen Stress zu vermeiden.

In zweifachem Zusammenhang passt dazu die folgende Frage: Akademiker gelten in weiten Teilen der Bevölkerung als besonders gescheit; aber warum? Um Akademiker zu werden, muss man vor allem viel Wissen erwerben. Gelten Akademiker nun als gescheit, weil sie viel wissen? Oder hängt es mit dem Prozess des Wissenerwerbs zusammen, der vielen Menschen schwer fällt und dessentwegen sie Akademiker bewundern?

Diese Fragen sind an das geneigte Publikum gerichtet und stellen ein Beispiel für ein Thema dar, über das es sich, trotz allem, was ich hier, in diesem Posting, geschrieben habe, lohnt zu diskutieren; denn es geht nicht um die logische Widerlegung einer Hypothese, sondern um die Erfahrungen, die die Menschen in Bezug auf diese Frage gemacht haben.

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