Wer ist "gescheit"?

Soeben habe ich mir ein Video angesehen, das einen Zwölfjährigen zeigt, wie er einen Vortrag über wissenschaftliches Arbeiten hält. Dieser Junge ist angeblich ein Wunderkind, dem schon in seinem zarten Alter so manche geistige Spitzenleistung, vor allem auf dem Gebiet der Astrophysik, gelungen ist.

Das hat mich daran erinnert, dass ich früher auch gerne als Wunderkind gegolten und solche Vorträge vor großem Publikum gehalten hätte. Aber hier in Österreich ist es anders als in Amerika. Hierzulande wird nicht so viel Tamtam um die Hochbegabten gemacht. Als ich zur Schule ging, war es offiziell sogar nicht einmal möglich, Klassen zu überspringen, geschweige denn, noch vor der Matura mit einem Studium an der Universität zu beginnen.

Seit ich regelmäßig die Medien verfolge, sind mir nur zwei österreichische Wunderkinder untergekommen, über die dort immer wieder berichtet wurde: Jonas Kraft und Marian Kogler. Von beiden hört und liest man seit geraumer Zeit nichts mehr. Ich frage mich warum und vermute, dass manch Wunderkind unter seelischem Stress leidet, weil es sich selbst unter enormen Druck setzt und an den eigenen Ansprüchen scheitert.

Man kann das auch am Beispiel eines Bekannten von mir sehen, der - zum Glück, für ihn! - nicht so prominent ist. Im Alter von 12 oder 13 Jahren hat er, der am Gymnasium immer sehr gute Noten geschrieben hat, neben der Schule begonnen, Physik zu studieren. Dazu war eine spezielle Genehmigung seitens einer Behörde (ob Landes- oder Bundesregierung, weiß ich nicht so genau) vonnöten, die ihm wohl unter anderem aufgrund seiner ausgezeichneten schulischen Leistungen erteilt wurde. Doch mein Bekannter scheiterte bereits bei der ersten Prüfung an der Universität grandios. Dabei war diese Prüfung (er hat mir die Prüfungsangabe zukommen lassen) für Uni-Verhältnisse sehr leicht; es wurde wirklich nur Stoff der gymnasialen Oberstufe abgeprüft. Ich weiß nicht, wie mein Bekannter seinen Misserfolg verarbeitet hat. Aber sein Beispiel zeigt, dass Hoch- und Höchstbegabte nicht immer nur Erfolge haben. Gerade wenn man sich für besonders begabt hält und besonders hohe Ansprüche an sich selbst hat, kann ein Scheitern ein äußerst schmerzhaftes Erlebnis sein.

Mir selbst wurde von Erwachsenen immer wieder gesagt, dass ich "besonders gescheit" sei. Manche verglichen mich auch mit Einstein - das typische Hochbegabtenklischee: Viele kennen ja nur Einstein, andere "Genies" sind ihnen nicht namentlich bekannt. Es war wohl in gewisser Hinsicht gut, dass ich als Kind keinen Intelligenztest gemacht habe. So blieb ich bis zur Matura bescheiden und erwartete auch keine bevorzugte Behandlung durch Lehrer oder sonstige Autoritätspersonen. Wie von jedem anderen Schüler wurde von mir erwartet, dass ich meine Hausaufgaben mache und für Prüfungen lerne, und das habe ich getan. So kam es, dass ich anno 2001 mit einem ausgezeichneten Maturazeugnis belohnt wurde. Erst in meiner Studienzeit habe ich dann einen Intelligenztest gemacht, weil ich mein Potenzial abschätzen wollte - ich träumte schließlich von einer Hochschulkarriere. Es war sicher nicht ganz schlecht, dass ich als Erwachsener einen solchen Test gemacht habe. Immerhin hat es gewisse Selbstzweifel ausgeräumt und auf lange Sicht auch bewirkt, dass ich meine charakteristische Schüchternheit abgelegt habe. Bevorzugt wurde ich von meinen Lehrern an der Universität trotz allem nicht. Jeder Studierende musste sich durchkämpfen. Da gab es keine Unterschiede. Inwiefern persönliche, etwa verwandschaftliche, Beziehungen vielleicht einen Vorteil darstellen mochten, kann ich nicht beurteilen. Ich verfügte jedenfalls über kein "Vitamin B". Den Medienberichten zu urteilen mag aber eine CV-Mitgliedschaft durchaus eine karrierefördernde Wirkung im Hochschulwesen haben - wenn man den Medien nicht Glauben schenken mag (aufgrund diverser Erfahrungen halte ich diese Skepsis für durchaus berechtigt): man sehe sich nur an, welche Professoren alle CV-Mitglieder sind. (Viele persönliche Informationen dieser Art kann man heutzutage durch eine einfache Internet-Recherche finden. Manches steht auch in der Wikipedia.) Darüber habe ich in früheren Artikeln in diesem Blog ja bereits geschrieben.

Aber was bringt es denn der Gesellschaft, wenn jemand "besonders gescheit" ist? Dazu muss man sich erst einmal fragen, was es bedeutet, "gescheit" zu sein:

1. Ist derjenige "gescheit", der in einem IQ-Test gut abschneidet? Solche Leute kann man durch einen IQ-Test leicht identifizieren. Das geht rasch und schmerzlos. Aber was bringt's?

2. Oder muss man vielleicht eine außergewöhnliche geistige Leistung erbracht haben, um als "besonders gescheit" zu gelten, wie etwa die Entwicklung einer neuen wissenschaftlichen Theorie? Dann muss man sich aber fragen, welchen Nutzen diese Theorie hat. Viele Theorien sind nicht unmittelbar anwendbar. Bei manchen kommt man erst nach Jahrzehnten bis Jahrhunderten darauf, wie sie sich anwenden ließen.

Hinzu kommt meiner Meinung nach, dass das Beweisen einer mathematischen Vermutung zwar eine anerkennenswerte intellektuelle Leistung ist, doch ein solcher Beweis fast immer völlig nutzlos ist! Denn diese Vermutungen, die oft Jahrhunderte eines Beweises harrten, haben entweder keine (offensichtliche) praktische Anwendbarkeit, oder aber sie wurden bereits in der Praxis angewendet, ohne bewiesen worden zu sein. Der Beweis ist im Prinzip Formsache. Da geht es allenfalls um die endgültige Begründung, warum eine Formel richtig sein muss. Einen realen Unterschied macht es aber nicht, ob eine Formel unbewiesen ist, sich aber im praktischen Leben bewährt hat, oder ob man den Beweis kennt. So ist auch das P-NP-Problem zu betrachten.

Man sieht das ja auch in der Medizin. Da wird im täglichen Leben, im Berufsalltag eines Arztes, ständig mit Annahmen gearbeitet, die nicht endgültig bewiesen worden sind, ja möglicherweise gar nicht bewiesen werden können. Und trotzdem erzielt die Medizin Heilerfolge. Nicht zuletzt sagt man auch: "Wer heilt, hat Recht." In der Praxis genügt es, mit Hypothesen zu arbeiten; wenn sich diese Hypothesen erhärten, ist es gut, wenn nicht, müssen sie verworfen werden.

Es ist unendlich schwieriger, eine All-Aussage zu beweisen, als sie zu widerlegen. Natürlich ist es eine besondere geistige Leistung, wenn es gelingt, eine Vermutung zu beweisen. Aber notwendig ist das nicht.

Doch vielleicht gibt es noch eine weitere Möglichkeit, was man unter "gescheit" verstehen könnte:

3. Derjenige, der gut durchs Leben kommt, ist besonders gescheit.

Diese Definition hat aber nichts mit den beiden anderen Definitionen zu tun. Es mag eine Schnittmenge zwischen den "Gescheiten" nach den ersten zwei Definitionen und den "Gescheiten" nach dieser dritten Definition geben, aber die Mengen sind nicht deckungsgleich.

Letzten Endes sollte man wohl froh sein, wenn Erwachsene einen als "gescheit" bezeichnen, aber dem nicht allzu viel Bedeutung beimessen.

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