Das Bildungsniveau der Bevölkerung

Wenn man - wie es manche Beobachter tun - sagt, das allgemeine Bildungsniveau sei in den letzten Jahren und Jahrzehnten gesunken, dann beruht dieses Urteil meines Erachtens auf einer oberflächlichen (beurteilt wurden wahrscheinlich nur bestimmte Komponenten der Bildung, wie Rechtschreib- und Rechenkenntnisse, und nicht das Wissen über neue Dinge, das vor einigen Jahrzehnten noch gar kein Thema war, wie Computer) und einseitigen (nur aufgrund des möglicherweise niedrigeren Niveaus der Studienanfänger wurde eine Aussage über die Gesamtbevölkerung getroffen) Analyse, und das Urteil ist höchstwahrscheinlich sogar falsch, denn ich vermute, dass das allgemeine Bildungsniveau im Verlauf der Zeit eher zugenommen hat.

Tatsache ist, dass immer mehr Menschen hierzulande einen höheren Bildungsabschluss erreichen. Es ist also zumindest das Streben nach höherer Bildung in weiten Teilen der Bevölkerung vorhanden. Nun mag freilich das durchschnittliche Niveau heutiger Maturanten niedriger sein als früher, als nur eine kleine Elite der Bevölkerung überhaupt Matura machte. Das ist auch nicht unlogisch, schließlich hat die grundsätzliche geistige Leistungsfähigkeit der Bevölkerung, selbst wenn James Flynn Recht hat, im Lauf der Jahrzehnte nur geringfügig zugenommen. Wenn heute viel mehr Menschen Matura machen als vor zwanzig, dreißig Jahren, dann ist anzunehmen, dass darunter auch solche sein werden, deren geistige Leistungsfähigkeit den Anforderungen der Matura früher nicht entsprochen hätte.

Für viele Menschen scheint es heutzutage aber für ihr Selbstwertgefühl wichtig zu sein, einen akademischen Abschluss zu haben. Die Universitäten haben einen geschickten Weg gefunden, wie man relativ vielen Menschen einen solchen Abschluss ermöglichen kann, ohne dass das Niveau der Absolventen mit Diplom oder Doktorat darunter leidet: Durch den Bologna-Prozess wurden ja die Bachelor-Abschlüsse eingeführt, und diese werden nun genutzt, um das grundlegende Bedürfnis nach einem akademischen Abschluss zu stillen. Die Anforderungen an ein Diplom sind in Folge dessen aber keineswegs gesunken, ganz im Gegenteil! Ein Diplom in Informatik beispielsweise ist heutzutage mit weit höherem Aufwand verbunden als vor zwanzig Jahren. Das kann man bereits durch den Vergleich der Studienpläne erkennen; während früher ein Diplomstudium der Informatik laut Gesetz nur 160 Semesterwochenstunden Umfang haben musste (was im Vergleich zu anderen Studienrichtungen immer noch viel war; Wirtschaftsinformatiker zum Beispiel mussten nur 100 bis 130 Semesterwochenstunden absolvieren), kommt man heute mit Bachelor und Master auf insgesamt 200 Semesterwochenstunden an Lehrveranstaltungen, über die man Prüfungen ablegen muss [1]. Die Studienpläne an der TU Wien wurden zudem in den letzten Jahren mehrmals verschärft; wer heute mit dem Informatik-Master-Studium "Computational Intelligence" anfängt, muss schon eine große Zahl an Pflicht-Lehrveranstaltungen bewältigen, die ich noch nicht unbedingt machen musste - ich konnte mir noch die meisten Fächer entsprechend meiner Interessen frei aussuchen (sofern sie zum Thema des Studiums passten und im Katalog des Studiengangs enthalten waren).

Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch anmerken, dass in meinem sozialen Umfeld, von Kindergarten über Volksschule und Gymnasium bis zur Uni, alle "Peers" (Mitschüler und Kommilitonen) einen akademischen Abschluss angestrebt haben. Nur durch die Mensa habe ich überhaupt Menschen kennen gelernt, die diese Ambitionen weder für sich noch für ihre Kinder hatten. Sollte ich jemandem "strange" erscheinen, dann wird er vielleicht in einem anderen Milieu sozialisiert worden sein als ich; für mich sind jedenfalls Menschen ohne akademische Ambitionen "strange"!

[1] Vgl. http://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1997_48_1/1997_48_1.pdf

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