Auslese der Begabten

Eine Aufgabe des Schulwesens, neben vielen anderen, ist es auch, Begabungen zu erkennen und sozusagen "die Spreu vom Weizen zu trennen", also die weniger Begabten frühzeitig auszusondern und den höher Begabten den Weg zu einem Hochschulstudium zu ebnen. Dass das mitunter etwas brutal sein kann, liegt auf der Hand. Im folgenden Artikel möchte ich primär nicht über laut IQ-Test Hochbegabte schreiben; zu diesem Thema habe ich mich in diesem Blog sowie im "Intelligenzmagazin" ja bereits öfter geäußert. Diesmal geht es eher um durch die Schule identifizierte "Begabte" (ob die Begabung derart ausgeprägt ist, dass man von einer Hochbegabung sprechen könnte, und welchen Intelligenzquotienten diese Leute haben, ist sekundär) und die Problematik dieser Auslese.

Zunächst einmal sei festgehalten: Auch wenn sich progressive Strömungen innerhalb der Bildungspolitik häufig gegen Selektion aussprechen, wird in unserem Schulsystem nach wie vor eine solche durchgeführt. Wenn dem nicht so wäre, gäbe es nicht die fünfstufige Notenskala und wohl auch kein Sitzenbleiben.

Die Noten werden in erster Linie für konkrete Leistungen vergeben, wie etwa Schulaufsätze. Wenn man aber die Entwicklung der Noten eines Schülers im Verlauf der Zeit betrachtet, kann man daraus einen gewissen Trend herauslesen. Dieser Trend mag Begabung genannt werden. Begabung in diesem Sinne ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit einem guten Abschneiden in einem Intelligenztest. Die so genannten Hochbegabten werden in der Psychologie deswegen so bezeichnet, weil sie in einem Intelligenztest eine besonders hohe Punktezahl erreicht haben. Ein Intelligenztest ist aber eine punktuelle Leistung und zeigt keineswegs einen Trend auf. Wenn ich in diesem Artikel also von Begabung spreche, dann verwende ich diesen Begriff in einem anderen Sinn als die Intelligenzforschung. Begabung ist ein Potenzial, in einem bestimmten Bereich gute Leistungen zu erbringen. Wenn jemand in einem bestimmten Schulfach nicht nur punktuell einzelne Spitzenleistungen (und sonst nur eher durchschnittliche Leistungen) erbringt, sondern immer gut ist, dann kann man vermuten, dass er für dieses Fach begabt ist. Über den Grad der Begabung kann man aber nur eine beschränkte Aussage treffen. Der Intelligenztest hingegen ist zwar dazu gedacht, den Grad einer allgemein-intellektuellen Begabung zu messen (beziehungsweise die Ausprägungsgrade der Begabungen in verschiedenen Bereichen, je nachdem, welcher Test verwendet wurde), aber da ein solcher Test eine punktuelle Überprüfung von Talent darstellt und nicht mit einer Langzeitbeobachtung verbunden ist, sind die beiden Begabungsbegriffe (laut Intelligenztest punktuell gemessene Begabung auf der einen Seite sowie Begabung als Trend in den Schulnoten auf der anderen Seite) zueinander nicht äquivalent.

Um ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln, ist es jedenfalls notwendig, dass ein Heranwachsender sich selbst nicht als völlig unbegabt wahrnimmt. Wohlgemerkt: Entscheidend ist die Selbstwahrnehmung, nicht die Wahrnehmung durch Andere. Aber die Selbstwahrnehmung kann dadurch, wie man von Anderen wahrgenommen wird, beeinflusst werden. Wie stark, ist individuell verschieden. Manche Schüler nehmen sich eine Schularbeitsnote sehr zu Herzen, anderen bedeutet sie gar nichts. Manchen setzen eher negative Erfahrungen zu, während die positiven für sie nicht näher zu beachtende Selbstverständlichkeiten sind, andere freuen sich eher über positive Dinge und ignorieren oder negieren die negativen. Welche Unterschiede bestehen und warum diese Unterschiede bestehen, ist Gegenstand der differentiellen Psychologe. Hierfür bin ich kein Experte, wohl aber interessierter Laie.

Aus genanntem Grunde kann es problematisch sein, wenn man die Jugend in Begabte und weniger Begabte einteilt. In erster Linie muss man sich fragen, wie sich solche fühlen mögen, die von ihren Lehrern, Eltern und Mitschülern als weniger begabt betrachtet werden und nicht über eine derartige Widerstandskraft verfügen, dass sie dieses Urteil völlig kalt lässt. Meiner Meinung nach ist das sehr problematisch. An mangelndem Selbstbewusstsein kann ein Mensch zerbrechen; es kann ihn daran hindern, sein Potenzial zu entfalten. Umgekehrt mag jemand, der sich selbst als besonders begabt betrachtet, zwar mehr oder minder glücklich sein, aber in Situationen geraten, wo er an seinen eigenen Ansprüchen oder an den Ansprüchen Anderer scheitert, weil er eben doch nicht alles kann. Gefährlich mag es auch sein, wenn jemand, obwohl er immer gute Leistungen erbracht hat und von Anderen gelobt wurde, sich selbst für eher unbegabt hielt; von dieser Sorte bin jedenfalls ich: Nach meiner doch recht guten Matura (Notendurchschnitt 1,0 in allen Prüfungsfächern sowie in allen Fächern der 8. Klasse AHS; ein besserer Notendurchschnitt wäre im österreichischen System nicht möglich gewesen) glaubte ich, "schwachsinnig" (ein veralteter Ausdruck für das, was Fachleute heute "minderbegabt" nennen) zu sein, und hielt mich für das ursprünglich von mir geplante Informatikstudium ungeeignet. So kam es dazu, dass ich Medizin studierte. (Später holte ich dann aber das Diplom in Informatik - ohne große Mühe und sogar mit Auszeichnung - nach.)

Was ich mich jedoch vor allem frage, ist, was es überhaupt bringen soll, junge Menschen in "Begabte" und "Unbegabte" einzuteilen. Was bringt es, "begabt" zu sein? Wer fragt denn bei einem Job-Interview nach der Begabung? In Österreich ist es vielerorts nicht einmal üblich, sich nach den Noten zu erkundigen. Für mein Maturazeugnis habe ich überhaupt nichts bekommen. Auch für die Noten im Studium nicht. Niemanden interessiert, wie begabt man ist, solange man das, was man tun muss, ordentlich macht. Natürlich, wenn jemand dazu nicht in der Lage ist, mag das ein Grund sein, ihn als "unbegabt" zu bezeichnen. Aber nur wenige Menschen sind wirklich so schwach begabt, dass sie im Berufsleben völlig versagen. Irgendein Weg findet sich für fast jeden. Für die übrigen gibt es Sozialhilfe.

Wohlgemerkt: Vielleicht mag die Begabung ja eine Rolle dabei spielen, ob jemand würdig ist, Sozialhilfe zu bekommen. Wenn jemand keinen Job findet, sich aber als begabt erweist, dann lässt man ihn halt sterben, weil er offensichtlich ein fauler Sack ist, oder? Das ist natürlich eine Pervertierung des an sich lobenswerten sozialen Gedanken!

Nun zum Begriff der Hochbegabung nach IQ-Test. Es ist ja so, dass man einen bestimmten Mindestwert im IQ-Test erreicht haben muss, um dem Verein Mensa beitreten zu dürfen. Zufälligerweise fällt dieser Mindestwert mit dem Wert zusammen, ab dem man als "hochbegabt" gilt. So gesehen, ist Mensa ein "Hochbegabtenverein". Doch dieser Begriff wurde auch von Mitgliedern schon als problematisch kritisiert. Immerhin verbindet man mit dem Begriff der Begabung für gewöhnlich konkrete Fähigkeiten - beispielsweise, dass jemand gut zeichnen oder gut Klavier spielen kann. Hochbegabung ist in diesem Sinne aber ein sehr allgemeiner Begriff; manchmal spricht man dazu synonym auch von "intellektueller Hochbegabung", um wenigstens klar auszudrücken, dass es sich um eine Begabung auf geistigem Gebiet handelt. Das sagt aber auch noch recht wenig aus. Ist ein Hochbegabter automatisch gut in Mathematik? Nein, wie das Beispiel vieler Mensaner zeigt. Oder in Sprachen? Auch nicht. Eher schon im logisch-analytischen Denken. Das können die meisten Mensa-Mitglieder gut. Manche geben aber an, selbst darin Probleme zu haben. Eventuell legen verschiedene Intelligenztests so verschiedene Schwerpunkte, dass es nicht einmal unbedingt notwendig ist, ein begabter Logiker zu sein, um im für Mensa relevanten Bereich abzuschneiden.

Mensa ist jedenfalls eine eigene Welt. Dort gibt es viele, die von Begabungsfanatikern im echten Leben wohl nicht als begabt wahrgenommen würden. Manche Mensaner klagen ja auch darüber, dass ihre Begabung von ihren Lehrern nicht erkannt worden sei. Sie fühlen sich von ihrer Umwelt missachtet. Dabei muss man aber auch sagen, dass der Intelligenztest nicht jede Komponente menschlichen Denkens überprüft. Es kann durchaus sein, dass jemand bestimmte Schwächen, auch in schulisch relevanten Bereichen, hat, selbst wenn er in einem Intelligenztest außergewöhnlich gut abgeschnitten hat. Deswegen kann man den "Underachievern" unter den Mensanern durchaus den Vorwurf machen, die Problematik nicht gründlich genug analysiert zu haben.

Insgesamt spielt es jedenfalls in der österreichischen Öffentlichkeit eine eher geringe Rolle, wer wie begabt ist. Im Ausland mag es vielleicht anders sein, vielleicht sind etwa in Deutschland die Begabungs- und Leistungsfanatiker stärker vertreten. Darin habe ich zu wenig Einblick. Jedenfalls ist es problematisch, Menschen in Begabtere und weniger Begabte einzuteilen. Das kann auch den tatsächlich Begabteren schaden.

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